Ein Einhorn ist als reines Wesen bekannt, das durch Empathie und durch sein Wesen die Schicksale der Mesnchen immer wieder zum Guten wendet. Ob das auch im folgenden Märchen gelingt?
An dem alten Eckhause Neß-Brodschrangen, welches nun lange abgebrochen ist, befand sich früher das in Stein gehauene Bildnis eines Einhorns. Hierdurch zeichnete es sich vor den umliegenden Häusern aus, und
mancher Fremde staunte das Bild an.
Vor ungefähr 450 Jahren lebte in diesem Hause ein reicher Kaufmann mit seiner Familie glücklich und zufrieden. Die beiden Söhne waren der Stolz des Vaters, und er hoffte, ihnen später das umfangreiche Geschäft übertragen zu können. Aber je älter die Söhne wurden, desto weniger Lust bezeigten sie, sich dem Kaufmannsstande zu widmen, und um sich dem sie bedrohenden Schicksale zu entziehen, ergriffen sie die Flucht. Mit Hilfe eines alten Dieners gelang es ihnen, zur See fortzukommen, um in der weiten Welt ihr Glück zu suchen. Als die Eltern die Flucht ihrer Söhne erfuhren, wurden sie vor Schmerz sehr krank, und nur die Kunst geschickter Ärzte konnte sie am Leben erhalten. Aber auch später kränkelte die Mutter sehr, und ihr Leben schien an einem Faden zu hängen.
Mehrere Monate waren vergangen, und noch immer war die Neptun nicht in Hamburg angekommen. Da traf eines Tages die Nachricht ein, daß vor der Elbmündung ein Kauffahrteischiff mit Mann und Maus untergegangen sei. Nur zu schnell wurde auch der Name des Schiffes bekannt, es war die Neptun. Diese Nachricht verschlimmerte den Zustand der Mutter so sehr, daß sie noch in derselben Stunde ihren Geist aufgab. Der Kaufherr hatte nun seine Frau und seine beiden Söhne verloren und keine Anverwandten mehr, denen er seine Reichtümer hinterlassen konnte, deshalb ordnete er für seine Frau ein kostbares
Leichenbegräbnis an. Die Leiche wurde in kostbare Gewänder gehüllt und reich mit Schmucksachen geschmückt. Der teure Leichnam wurde in der Johanniskirche, welche jetzt nicht mehr vorhanden ist, unter allgemeiner Teilnahme beigesetzt.
In dem Grabgewölbe stand währenddes der Sarg mit der Entschlafenen. Die vielen Schmucksachen hatten die Habgier eines Beamten erregt, der die Leiche vor ihrer Bestattung gesehen hatte. Mit Brecheisen und
Stangen schlich er sich deshalb nachts in die Kirche und erbrach das Grabgewölbe. Es fiel ihm nicht schwer, den Sarg zu öffnen. Schon wollte der Räuber die Schmucksachen an sich nehmen, als er bemerkte, daß die Leiche die Augen aufschlug und den Kopf bewegte. Er glaubte nicht recht gesehen zu haben, aber Schrecken ergriff ihn, als die Scheintote sich ganz aufrichtete und ihn zürnend ansah. Er vergaß, in welcher Absicht er gekommen war, und ergriff die Flucht. Dieselbe war so eilig, daß er die Kirchentür abzuschließen vergaß.
In diesem Augenblick ließ sich ein Poltern auf der Treppe hören, und das Einhorn sah im nächsten Augenblick zum Fenster hinaus. Zitternd ging nun der Kaufherr hinunter, um die Tür zu öffnen, und fand in der Tat seine Frau vor derselben stehen. Er trug sie hinauf und rief das ganze Haus zusammen. Die gerettete Scheintote kam bald wieder zu Kräften, und die Kunde von der Rückkehr ihrer Söhne gab ihr bald die volle Gesundheit wieder. Sie lebte noch lange froh im Kreise der Ihrigen, zum Andenken mußte aber ein geschickter
Bildhauer das Einhorn in Stein aushauen.
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Märchen aus "Sagen und Märchen aus Hamburg" von Gundula Hubrich-Messow