Der kleine Reisebericht über eine Wattfahrt von (dem damals hamburgischen) Cuxhaven auf die (noch heute) hamburgische Insel Neuwerk stammt aus der Feder von Bettina von Arnim (geb. Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano ,1785-1859), der bedeutendsten Frauengestalt der jüngeren Romantik. In der Literaturkritik wird ihre Genialität, ihr Reichtum und Beweglichkeit der poetischen Phantasie in höchstem Maße hervorgehoben.
Bettina von Arnim war zwanzig Jahre mit dem Dichter Achim von Arnim (1781-18319) verheiratet, aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor. Achim von Arnim gilt zusammen mit Bettinas Bruder Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (1778-1842) als Hauptvertreter der sogenannten Heidelberger Romantik, von ihnen stammt z.B.:„ Des Knaben Wunderhorn".
Dem, sogenannten „Heidelberger Kreis", zugerechnet werden neben den Genannten auch folgende Schriftsteller und Dichter: Joseph Görres, Joseph von Eichenorff, die Brüder Grimm, Karoline von Günderrode (die „Sappho der Romantik") und Friedrich Hölderlin.
Bettina von Arnim gehört so wie Heinrich Heine in die Reihe von „berühmten Kurgästen" des von dem Hamburger Amtmann Amandus Augustus Abendroth gegründeten Seebades Cuxhaven, des ehemaligen Hamburger Amtes Ritzebüttel (Das Hamburger Amt Ritzebüttel).
Herbert Kihm
Neuwerk (Neuwerk - Hamburgs Stadtteil mit der geringsten Einwohnerzahl) - kleine Insel im Watt, von Cuxhaven aus bei Ebbe zu Fuß und zu Wagen zu erreichen, bei Flut umspült von den Wellen der Nordsee - im weiten Blickfeld des Meeres immer wieder die Aufmerksamkeit magnetisch auf sich ziehend, geheimnisvoll im Nebel verschwimmend und bei klarer Sicht wieder am Horizont auftauchend, wie eine Fata Morgana...
Nachmittags soll die Wattfahrt beginnen - Wagenfahrt über den freigelegten Wattboden - nie zuvor erlebt, neuartig, von Romantik umwittert und von ganz besonderem Reiz.
Kurz zuvor ist ein leichtes Gewitter niedergegangen, aber nun regnet es nur noch ganz leise und das kleine Eiland ist im Dunst verschwunden. Den Himmel bedeckt abziehendes schieferfarbenes Gewölk und hinterlässt dünnes, graues Regengespinnst, das die sommerliche Bläue vorläufig noch verdeckt.
Der hochrädrige Kastenwagen, der die Postzustellung nach Neuwerk wahrnimmt, wartet schon. Auf Leitern wird er erklommen. Eine Decke, über die Knie gebreitet, soll die Kühle des Watts abhalten. - Und nun ziehen die beiden braven, brauen Pferde an, die den Weg übers Watt sommers und winters schon so oft zurückgelegt haben, dass sie schon selbst unfehlbar den mit Reisigbüscheln abgesteckten Pfad innehalten. Dieser Weg muss jedes Jahr neu abgesteckt werden, da sich die Priele durch die alljährlichen Stürme verlagern. - In Duhnen geht es zum Strand und nun rollt der Wagen über den freigelegten Meeresboden dahin.
Man glaubt, die Hufe der Pferde müssten tief im morastigen Boden einsinken - aber der Untergrund erweist sich als erstaunlich fest. Der Sand ist vom Wellenschlag gerippt, und bald fallen die unzähligen kleinen „Sandwürstchen" der Wattwürmer auf, die der Wattoberfläche ein eigenartiges wirres und krauses Gepräge geben. Die weite Sandfläche ist im Übrigen von mehr oder weniger großen Pfützen und Tümpeln und Prielen durchsetzt, aus denen die dürren Äste der Sträucher, die den Weg begrenzen, wie Strauchbesen hervorragen. Ganze Muschelkolonien haben sich daran gebildet.
Zehn Kilometer liegt Neuwerk vom Festland entfernt, aber durch die Umwege, die der Wagen machen muss, kommt eine Fahrstrecke von fast fünfzehn Kilometern heraus, denn die tiefen Priele müssen umfahren oder an ihren flachen Stellen durchfahren werden; diese Priele, die sich wie ein System von verzweigten Flussarmen durch das ganze Watt ziehen und sich bei Einsetzen der Flut zuerst wieder mit Wasser füllen, was schon manchen unbedachten Spaziergänger zum Verhängnis geworden ist.
Der große Priel. Er gleicht einem Flusse, der von unzähligen kleineren Bächen gespeist wird. Bei Flut kann er von kleineren Fahrzeugen genutzt werden. Tapfer ziehen die Pferde den Wagen hindurch, sie gehen bis zum Rücken im Wasser.
Schweigend geht es dahin. Das weite Watt ist ein blinkender Spiegel. Aber wenn sich die Sonne wieder einmal hinter einer Wolke versteckt, verändert sich plötzlich das ganze Bild. Dann wirkt das Watt, dort, wo noch Wasser steht, wie eine überschwemmte Landschaft und die Sträucher sind die Kronen ertrunkener Bäume. Ein Bild von seltsamem Reiz, das uferlose Traurigkeit ausströmt...An den Rändern der Priele haben sich die weißen Muscheln festgesetzt. Schaut man zurück, so zeichnen sich die Priele als helle Striche vom Meeresboden ab. Möwen stolzieren überall herum und erheben sich kreischend in die Lüfte beim Nahen des Wagens. In einem Priel liegt ein kleines Schiff verankert, ein Muschelfischer. Er sammelt die weißen Muscheln, die zu Muschelkalk verarbeitet werden. Es geht noch durch verschiedene Priele, bis die Insel langsam näher rückt und man Einzelheiten erkennen kann. Jetzt aber wächst sie mit ihrem wuchtigen Leuchtturm (Der Leuchtturm von Neuwerk - Das älteste Bauwerk der Hansestadt Hamburg), dem ältesten Deutschlands, vor uns empor und alles ist deutlich zu sehen: die steinernen Uferbefestigungen, der grüne Deich, die Häuser mit ihren roten Dächern, die Seefahrtzeichen. Und nun rollt der Wagen über den hohen Deich hinein ins grüne Binnenland der Insel und direkt bis vor den Leuchtturm. Aussteigen, wir sind am Ziel, auf Neuwerk...
Unvergesslich die Stunden auf der stillen grünen Insel, die den Wunsch entflammt, einmal für längere Zeit auf ihr Einkehr zu halten.
Dann ist es Abend geworden und Zeit zur Rückfahrt, ehe die Flut uns wieder einholt. Eineinhalb Stunden dauert jede Fahrt und ebenso lange der Aufenthalt auf der Insel, wenn man nicht eine Tide überschlagen und auf Neuwerk bleiben will.
Wieder geht es hinaus aufs Wattenmeer, diesmal in flotter Fahrt. Im Osten verdämmert graublau der Himmel. Lichter blinken herüber: Leuchtbojen und das Feuerschiff „Elbe 4". (53°55'21´´N-Br. 08°40´8´´O-Lg.) Im Westen dagegen hat sich der Himmel entzündet, er ist flammend gelb gefärbt und die Sonne geht als purpurner Glutenball zur Neige. Ihr Schein spiegelt sich in den Prielen und Tümpeln des Watts, dass sie rubinrot leuchten... Kühle steigt vom Boden auf und lässt die Blicke das Festland suchen, das tröstlich herüber grüßt.
Vor dem flammenden Abendhimmel aber steht breit und wuchtig der Leuchtturm von Neuwerk, und sein Licht weist den Schiffen den Weg durch die Nacht, wenn über das Watt, das wir befuhren, schon längst wieder die Wellen des Meeres dahinfluten... (Bettina von Arnim, 1785-1856 )
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Quelle: Cuxhaven, Ein Heimatbuch, Herausgeber:B.Kohfahl-Münker,1938, Druck und Verlag: Alexander Grüter, Nachf.K.-G., Cuxhaven